Saša Stanišić liest im Kieler Kulturforum: Die besondere Magie des liebevollen Humors
Kultur Lesungen & Slams
Am Abend des 18. September 2024 las der vielfach prämierte deutsch-bosnische Autor Saša Stanišić im Kulturforum in der Stadtgalerie Kiel aus seinem neuen Erzählband mit dem unwahrscheinlich langen Titel "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne". Der Poet im Pullunder begeisterte einen restlos ausverkauften Saal mit Erzählungen von zweiten Chancen, Heidelberger Weinbergen und Räumen der Möglichkeit. Außerdem sprach er auf der Bühne mit dem Literaturhaus über sein neues Werk.
Twitch ist eine Plattform im Internet, die besonders von jungen Menschen genutzt wird, die für ein Publikum Videospiele spielen. Während der Pandemie jedoch ließ sich dort auch ein Kanal mit dem Namen SasaStanisic finden. Wer das Glück hatte, über dieses Kleinod zu stolpern, konnte sich in Momente des Träumens hineinlegen, des Träumens über Heimat und Heimatlosigkeit einer Figur, die dem Autor namentlich sehr stark ähnelt, aber auch über Zwerge mit dem unerwarteten Namen Fieberthermometer. Träumen klingt wie ein übergroßes Wort, um den Effekt einer Stimme aus dem Bildschirm zu beschreiben, ist hier aber angemessen, denn wenn Saša Stanišić eins mindestens genauso hervorragend beherrscht wie das Schreiben, dann ist es das Erzählen.
Und das kam in Präsenz hundertfach zur Geltung. Ein ausverkauftes Kulturforum lauschte mit Hingabe, liebevollem Lachen und gespanntem Schweigen einem Meister der Geschichten. Wie ein Fisch im Wasser – oder wie Heinrich Heine in Paris – tanzte Stanišić mit Buch in der Hand über die Bühne und erzählte leicht, frei und ansteckend begeistert von Figuren aus seinem neuen Buch "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne". Von diese Figuren, für die "das Glück umständehalber spärlich gesät" ist, konnte man meinen, Stanišić habe sie nicht geschrieben, sondern kenne sie als nicht-fiktionale Charaktere persönlich auf intimste Weise.
Fatih, Piero und Nico sind Sašas beste Freunde (der echten Figur Saša in den echten Weinbergen Heidelbergs). Gemeinsam diskutieren sie über Fatihs Idee eines Proberaums für das Leben – zehn Minuten der eigenen Zukunft sehen, 130 Mark. Was das wohl bedeuten könne für die Menschen und ihr Verhalten? Die Antwort ganz klar: man würde sich mehr anstrengen, um schlechte Zukünfte zu verhindern und gute Zukünfte nicht zu gefährden.
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In dieser ersten Erzählung des Buchs zeigt sich das Herz, der rote Faden, der vom Autor liebevoll in den von ihm geschaffenen, süchtig machenden Proberaum der Literatur gelegt wurde: Die Frage, was wäre, wenn? Nicht jedoch nur im Sinne einer alternativen Zukunft, sondern vielmehr geknüpft an den Wunsch, es im Hier und Jetzt besser zu machen, damit dieses "Wenn" in der Zukunft ein Gutes sein kann.
Stanišić impliziert sich selbst als Figur und verwischt gekonnt die Grenzen zwischen Figur und Autor. Seine Figuren entwickeln so ein charmantes Eigenleben, obwohl sie trotzdem nie den Boden ihrer Herkunft verlassen, und laden die Leserschaft ein, sich ebenso selbst in seine literarische Welt zu begeben. Auch für sie stellt sich so die Frage: Was möchte ich vielleicht vom Leben?
Stanišić schafft eine Welt nicht unähnlich der Seinen und der Unseren, die aber doch eine lebendige Traumwelt bleibt. Sein Heidelberg ist ein sehr echtes Heidelberg, aber auch ein träumerisches Heidelberg, in dem seine Protagonisten kleine und große Abenteuer erleben, die stets gut ausgehen. Ein utopisches Werk könnte man es nennen, wie er im Gespräch mit dem Literaturhaus zugesteht. Wir wollen positiv belegte Geschichten hören und so soll das Buch aus der alltäglichen Tristesse ziehen. Kein Buch habe ihm beim Schreiben so gute Laune gemacht.
Und doch zeigt sich an jeder Ecke die Tatsache alltäglichen Unrechts, das seine Figuren erfahren, die so oft unprivilegierter Herkunft sind. Umso stärker freute die Zuhörenden der unweigerliche Erfolg, der ihnen widerfährt und umso effektiver ist Stanišić tangentenreicher und von magischem Humor geprägter Erzählstil. Dabei dient Fatihs Proberaum als "textinterner Maschinenraum" für die vom Autor geliebten zweiten Chancen für seine Figuren.
Der Titel entstand in Referenz auf einen Brauch aus dem Saarland. Stanišić ist als Sprachkünstler von der Sprache der Friedhöfe begeistert, aber besonders soll der Titel die Leser neugierig machen: wie mag es wohl der Witwe ergehen, die sich an diesen Brauch hält?
Das begeisterte Publikum applaudierte lange und anhaltend. Die Signiermöglichkeit nach der Lesung wurde nahezu ausnahmslos von den verzauberten Zuhörer:innen in Anspruch genommen; der parallele Bücherverkauf des Kieler Buchladens Zapata hatte zum Ende des Abends kein einziges Exemplar des Erzählbandes mehr übrig.
"Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne" ist am 30. Mai 2024 im Luchterhand-Verlag erschienen und in allen Buchhandlungen erhältlich.
Stanišić wurde 1978 in Višegrad im ehemaligen Jugoslawien geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Seine Erzählungen und Romane, darunter "Herkunft" und "Vor dem Fest", wurden in über 40 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Heute lebt und arbeitet er in Hamburg.